Wenn es eines Nachweises dafür bedurfte, dass Europa sich nicht mit der Bewahrung des Bestehenden aufhalten darf – um einen Ausspruch des italienischen Ministerpräsidenten Renzi zu benutzen – , so hätte man schwerlich an ein besseres Beispiel als das der griechischen Krise denken können. Die unruhigen Wochen vor der Einigung haben mehr als alles andere deutlich gemacht, dass die derzeitige Ordnung der Eurozone eine Spirale des gegenseitigen Misstrauens fördert und dadurch enorme Anstrengungen erforderlich sind, um immer dann, wenn es sich als notwendig erweist, zu Minimallösungen zu gelangen, die oftmals allerdings weniger Ausdruck von Einmütigkeit als vielmehr das Ergebnis eines Kräftemessens sind und in der Folge gefährliche Ressentiments schüren. Gerade das dem Funktionieren der Eurozone gegenwärtig zugrunde liegende System, die sogenannte zwischenstaatliche Methode (d. h. die Suche nach einvernehmlichen Lösungen zwischen den Regierungen, mit der angeblich Abhilfe für das Fehlen supranationaler föderaler Machtstrukturen und Instrumente auf europäischer Ebene geschaffen werden soll), bereitet in der Tat den Boden für das Gedeihen der anti-europäischen, systemfeindlichen Bewegungen, die mit ihrer Demagogie leichtes Spiel haben, um sich den Protest und den Widerstand gegen den Wandel zunutze zu machen, solange die Politik auf die einzelstaatliche Ebene begrenzt ist.
Damit soll nicht die wirkliche Bedeutung des zwischen Griechenland und der Euro-Gruppe erzielten Ergebnisses geschmälert werden. Tatsächlich sind ein Austritt Athens aus dem Euro mit potenziell verheerenden Szenarien für alle und ein Bankrott des Landes, der enorme Kosten für die Bürger mit sich gebracht hätte, vermieden worden; die Entscheidungen von Tsipras bieten ihm nun endlich konkret die Möglichkeit, dem Land mit einer Regierungspolitik, die die Auswüchse des griechischen Systems bekämpft, zu einem neuen Start zu verhelfen. Vor allem ist erneut grundsätzlich klar geworden, dass der Anspruch, an der uneingeschränkten nationalstaatlichen Souveränität festzuhalten, mit der Zugehörigkeit zum Euro unvereinbar ist, worauf Sabino Cassese zu Recht hinweist (Corriere della Sera, 15. Juli): Nach der freien Entscheidung – die, wenn einmal getroffen, jedoch bindenden Charakter erhält – , Teil einer Gemeinschaft zu werden, in der ein und dieselbe Währung gilt und nicht nur politische und wirtschaftliche Entscheidungen, sondern darüber hinaus auch gemeinsame Werte und Prinzipien von allen mitgetragen werden, ist eine Regierung nicht mehr nur den eigenen Wählern, sondern auch der neuen Gemeinschaft, der sie beigetreten ist (und den Völkern, aus denen diese Gemeinschaft sich zusammensetzt), verpflichtet. Die Proteste gegen die Kränkung, die der griechischen Demokratie angeblich zugefügt worden ist, tragen nicht dem Umstand Rechnung, dass Europa und vor allem der Euro Dimensionen von grundlegender Bedeutung für das politischen Leben eines Landes sind, das beschlossen hat, diesem Europa und diesem Euro beizutreten; man darf diese Dimensionen nicht außer Acht lassen und sollte auch nicht so tun, als hätte man nicht den Weg hin zu einer geteilten Souveränität eingeschlagen, auf dem es kein Zurück gibt. Zumindest geht es darum, dass die geteilte Souveränität für alle einsichtig sein und von einem noch zu schaffenden supranationalen europäischen System mit demokratischem Charakter getragen werden muss. Gerade dieser letztgenannte Aspekt ist als Folge der Spannungen der letzten Monate nämlich in aller Deutlichkeit zutage getreten. Wie zu erwarten, bietet sich nach der Bewältigung der griechischen Herausforderung nunmehr offensichtlich die Chance, den Prozess der Vollendung der Währungsunion zu beschleunigen, der seit mehr als zwei Jahren in der Schwebe war.
Es ist daher kein Zufall, dass unmittelbar nach der Lösung der dringlichsten Probleme Griechenlands Vorschläge der französischen Regierung und andere, wohl auf Finanzminister Schäuble zurückgehende Vorschläge zirkulierten, die ganz offensichtlich diesem neuen Klima Rechnung tragen. Mit all diesen Vorschlägen – auch wenn sie noch abschließend auszuformulieren sind – wird das erklärte Ziel verfolgt, kurzfristig eine echte europäische Währungsregierung einzusetzen. Was Deutschland betrifft, so scheint sich ein Projekt abzuzeichnen, das immer größere Zustimmung findet und darin besteht, den Weg der Fiskalunion durch die Ernennung eines Schatzministers der Eurozone weiter zu beschreiten, der dem Europäischen Parlament – in einem noch festzulegenden engeren Rahmen – verantwortlich wäre und die Befugnis hätte, bei einem Verstoß der Mitgliedstaaten gegen die in jeder Währungsunion unumgänglichen Haushaltszwänge einzugreifen und einen eigenen Haushalt der Eurozone zu verwalten, der über einen Anteil an der von den Staaten erhobenen Mehrwertsteuer oder Körperschaftsteuer gespeist wird. Auf diese Art und Weise würde – worauf DIW-Präsident Marcel Fratzscher am 27. Juli in der Financial Times hingewiesen hat – de facto eine Zuständigkeit für die Erhebung von Steuern und für die Ausgabe europäischer Wertpapiere geschaffen, die dafür genutzt werden könnte, einen Fonds zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Investitionsförderung zu speisen. Dass das Thema eines Souveränitätsverzichts im Fiskalbereich nach wie vor ein zentrales Anliegen Deutschlands ist, kommt auch in dem Bericht des Sachverständigenrates der fünf Wirtschaftsweisen vom 28. Juli zum Ausdruck (danach würde eine für potenzielle Kosten gemeinsam zuständige Eurozone ohne einen entsprechenden Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten in der Finanz- und Wirtschaftspolitik über kurz oder lang zu erhöhter Instabilität der Währungsunion führen); andererseits geht aus dem Bericht klar hervor, auf welche Hindernisse in Deutschland derjenige stößt, der sich für sofortige Fortschritte im Hinblick auf eine wirtschaftliche und politische Union einsetzt, und dass die Partner Deutschlands in der Eurozone Zeichen fester Entschlossenheit aussenden müssen, damit die Regierung in Berlin die inneren Widerstände im eigenen Land überwinden kann.
In Frankreich haben Präsident Hollande und Premierminister Valls ihrerseits zu verstehen gegeben, dass sie für eine Regierung und einen Haushalt der Eurozone eintreten, ohne jedoch im Einzelnen auszuführen, wie sie das Problem der Verlagerung von Kontrollbefugnissen über die nationalen Haushalte auf die europäische Ebene anzugehen gedenken; gleichzeitig bleiben sie recht diffus hinsichtlich der parlamentarischen Kontrolle auf europäischer Ebene im Bereich der Fiskal- und Wirtschaftspolitik. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt verbliebe diese parlamentarische Kontrolle gemäß der französischen Sichtweise bei einer untergeordneten Vertretung nationaler Abgeordneter der Eurozone (d. h. einer Vertretung, die der jeweiligen Volkssouveränität unterliegt, wie dies vor den Direktwahlen des Jahres 1979 der Fall war). Dazu hat Italien über Minister Padoan bereits notwendige und sachdienliche Vorbehalte geäußert.
Aber auch wenn zwischen den beiden Vorschlägen noch zahlreiche und tief greifende Unterschiede bestehen – die das Ergebnis der antithetischen Konzepte Frankreichs und Deutschlands für den europäischen Prozess sind – , so ist der entscheidende Punkt doch der, dass ein Dialog über die Reform der Governance des Euro offenbar wieder aufgenommen werden kann. Damit er von Erfolg gekrönt ist, wird die Rolle der übrigen maßgeblichen Regierungen wie auch der europäischen Institutionen von grundlegender Bedeutung sein. Die Grundsätze, die Deutschland verteidigt und von deren Einhaltung es künftige Fortschritte der Eurozone abhängig macht, sind unantastbar. Wenn Italien sich somit hinter den Vorschlag zur Einsetzung eines Schatzministers der Eurozone stellen würde, der zwar in begrenztem Maße, aber dennoch de facto in die Haushaltspolitik der einzelnen Staaten eingreifen könnte und dafür sowohl dem Europäischen Parlament (in einem noch festzulegenden engeren Rahmen) als auch der Mehrheit der Mitglieder der Euro-Gruppe verantwortlich wäre; und wenn Italien sich davon ausgehend für die Aufstellung eines aus Ad-hoc-Mitteln gespeisten Haushalts der Eurozone (begleitet von Vorschlägen zur Art der Steuern, auf die zu diesem Zweck zurückzugreifen wäre) und gleichzeitig für die Einführung spezifischer Solidaritätsmechanismen stark machen würde, hätte es sich mit diesem Schachzug eine entscheidende Stellung im Rahmen der herrschenden Auseinandersetzungen verschafft und könnte den Partnern in der Eurozone sogar die Reformagenda vorschreiben und von ihnen ein beschleunigtes Handeln einfordern, das angesichts des Ernstes der Lage unumgänglich ist.
Der Bericht der fünf Präsidenten von Ende Juni, demzufolge die Arbeiten auf der institutionellen Baustelle erst 2017 in Angriff genommen werden sollten, ist von den Fakten widerlegt, ja überholt worden. Er hat jedoch deutlich gemacht, dass man in den europäischen Institutionen keineswegs von dem Wunsch abgerückt ist, für die Governance der einheitlichen Währung ein föderales System zu schaffen. Daher ist es Aufgabe der Regierungen, nach dem letzten mühsamen Beitrag zum Überleben und zur Konsolidierung der Währungsunion nunmehr den letzten entscheidenden Akt des Souveränitätsverzichts zu vollziehen und die Keimzelle für eine wirkliche supranationale europäische Regierung zu legen.
Publius