N. 66 Januar 2016

Die Gefahr, dass der europäische Einigungsprozess Schiffbruch erleidet, ist konkret. Auf dem letzten Gipfeltreffen im Jahr 2015 ist einmal mehr deutlich geworden, in welch besorgniserregendem Zustand der Teilung, Unentschlossenheit und Ohnmacht sich Europa derzeit befindet. Die aufeinanderfolgenden Krisen der letzten Jahre – von der Wirtschafts- über die Finanz- und die Staatsschuldenkrise bis hin zur Flüchtlingskrise – wie auch die Probleme in den Beziehungen zu Russland und die mit dem Krieg in Syrien und dem Chaos im Nahen Osten im Zusammenhang stehenden Terroranschläge haben nicht dazu geführt, dass die gemeinsame Zielsetzung und der soziale Zusammenhalt in Europa gestärkt wurden, sondern vielmehr dazu, dass weniger Solidarität herrscht und Europa weniger geschlossen auftritt. Einzig und allein die europäische Währung in ihrer Ankerrolle und ihre Folgeerscheinungen, nämlich die Politiken, die die europäischen Institutionen, in erster Linie die EZB und die Europäische Kommission, sowie – wenn auch oft widerstrebend – die nationalen Regierungen verfolgen mussten, um eine nicht nur monetäre, sondern auch wirtschaftliche und soziale Katastrophe zu verhindern, haben bewirkt, dass Europa nicht zu einer rein geografischen Bezeichnung verkommen ist.

Bleibt die Tatsache, dass sich die Volkswirtschaften und Politiken der einzelnen Staaten im Europa der einheitlichen Währung und des Vertrags von Lissabon inzwischen in vielerlei Hinsicht viel stärker voneinander unterscheiden als vor dem Fall der Berliner Mauer, was sich bei zahlreichen Gelegenheiten manifestiert. Wie Norbert Röttgen, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, bemerkt hat, ist die einheitliche Währung zwar “unumkehrbar, allerdings nicht unzerstörbar” (FAZ, 15. August 2015); daher ist eine allzu schleppende Verwirklichung der vier Unionen (Banken- , Fiskal- und Wirtschaftsunion sowie politische Union) unvereinbar mit dem Fortbestand der einheitlichen Währung. Die Flüchtlingskrise und die Terroranschläge haben ihrerseits deutlich gemacht, wie fragil die Schengener Übereinkommen sind, die eigentlich das Fundament für die innere Sicherheit und gleichzeitig den freien Personen- und Warenverkehr im Binnenmarkt bilden sollten.

Somit muss die Vorgehensweise geändert werden, wenn es darum geht, der europäischen Wirklichkeit zu begegnen und 2016 die drei Fragen vorrangig zu klären, von denen das Schicksal der künftigen Generationen in Europa abhängt und die die Regierung der Eurozone, die innere Sicherheit und die Reform der Verträge betreffen.

Das Problem der Regierung der Eurozone kam mit der Finanz- und Wirtschaftskrise aufs Tapet und steht seit 2012 auf der Tagesordnung, als die Europäische Kommission in ihrem Blueprint for a deep and genuine Economic and Monetary Union (EMU) und die vier Präsidenten (der EZB, der Euro-Gruppe, desEuropäischen Rates und der Europäischen Kommission) in ihrem Bericht den Fahrplan für die Verwirklichung der vier Unionen aufstellten. Doch die nationalen Regierungen und Parlamente und selbst das Europäische Parlament kommen bei der Umsetzung des Fahrplans bisher nur sehr zögerlich voran, was erhebliche Zweifel daran aufkommen lässt, ob die Europäer glaubhaft die Absicht verfolgen, nicht nur die monetäre, sondern auch die politische Verantwortlichkeit auf die Ebene des Kontinents zu verlagern. Die letzte Tagung des Europäischen Rates im Dezember hat diese Zweifel ein weiteres Mal bestätigt. Dass diese Tagung einmal mehr von den Spannungen zwischen den Regierungen beherrscht wurde, ist Ausdruck der Tatsache, dass die Vertrauenskrise zwischen den Staaten jede Weiterentwicklung blockiert, und ist ganz offensichtlich Bestätigung dafür, dass es im Wesentlichen darum gehen muss, einen Teil der politischen Souveränität an Europa abzutreten, wozu der Verzicht auf einige Regierungsbefugnisse durch die Mitgliedstaaten gehört. Von der Banken- bis zur Fiskal- und Wirtschaftsunion und schließlich zur politischen Union ist alles miteinander verwoben, so dass es unmöglich ist, sich mit einzelnen Fragen gesondert auseinanderzusetzen. Selbst im Rahmen der Bankenunion, bei der bereits einige Ziele erreicht wurden und anscheinend Einvernehmen über das weitere Vorgehen für die Vollendung dieser Union bestand, führen die Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Systemen zu Spannungen, die nicht abgebaut werden können, ohne dass die komplexe Frage der Umwandlung der Währungsunion in eine föderale politische Union angegangen wird.

Vonnöten ist ein europäisches System, das die derzeitige zwischenstaatliche Methode ersetzt und der Europäischen Kommission – die gegenüber der Mehrheit des Europäischen Parlaments und des Rates, somit letzten Endes gegenüber den Bürgern und den Mitgliedstaaten verantwortlich ist – Regierungsbefugnisse und – instrumente an die Hand gibt, die sie unter anderem in die Lage versetzen, die Kontrolle über einen eigenständigen Haushalt für die Durchführung wirtschaftspolitischer Maßnahmen auf europäischer Ebene auszuüben und auf die Regierungen einzuwirken, die die gemeinsamen Standards nicht respektieren. Wenn dieser qualitative Sprung nicht gelingt, wird Europa in einer Zeit, die durch einen epochalen Wandel in der Produktions- und Beschäftigungsdynamik gekennzeichnet ist und in der europaweite Programme und ein Klima größerer Stabilität und Sicherheit daher immer dringlicher werden, gerade mit Blick auf die Wiederbelebung der produktiven und wirtschaftlichen Entwicklung im Stillstand verharren. Ergebnis dieser Lähmung ist die exponentielle Zunahme der anti-europäischen, nationalistischen, populistischen und fremdenfeindlichen Kräfte.

Auch im Zusammenhang mit dem Problem der inneren Sicherheit, das im Zuge der Steuerung der neuen Migrationsströme in seiner ganzen Komplexität und Schwere und mit den Anschlägen von Paris in seiner ganzen Dramatik zu Tage getreten ist, geht es in erster Linie natürlich darum, in diesen Bereichen – entsprechend dem Vorschlag der Europäischen Kommission – ausgehend von der Errichtung eines wirklich europäischen, von den Staaten unabhängigen Küsten-und Grenzschutzes eine echte europäische Politik zu verfolgen. Offenkundig besteht auch in diesem Fall auf politischer wie auf wirtschaftlicher Ebene eine Verknüpfung mit der Frage der Governance des Euro. Selbst im Vertrag von Lissabon ist die enge Verflechtung von Währung, Markt und Sicherheit verankert, was dazu geführt hat, dass sich die Bereiche, die früher zur dritten Säule gehörten, wie die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und die polizeiliche Zusammenarbeit, nach ähnlichen Regeln wie die den Binnenmarkt betreffenden Bereiche richten. Und auf politischer Ebene geht es auch in diesem Fall im Kern um den Souveränitätsverzicht durch die Staaten und die Schaffung einer legitimen europäischen Machtstruktur, d. h. die Übertragung von Aufgaben von den Staaten auf Europa im Rahmen des Aufbaus einer echten politischen Union.

Drittens schließlich der Prozess der Reform der Verträge, der sich aufgrund der institutionellen Grenzen des Vertrags von Lissabon als notwendig erweist und gerade in jüngster Zeit infolge des Beschlusses der Regierung Cameron, ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Union abzuhalten, eine neue Dynamik erhalten hat. Diese Entscheidung Großbritanniens impliziert de facto einen Zeitrahmen – nämlich 2016-2017 -, in dem die Änderungen der Verträge ausgearbeitet werden sollen, die nicht nur dazu dienen, die Bedingungen eines Brexit/Brexin, sondern vielmehr den neuen institutionellen Rahmen für die Koexistenz zweier Kreise von Ländern festzulegen, nämlich des Kreises der Länder, die sich dafür entschieden haben, den Euro einzuführen, oder die Absicht haben, dies zu tun, und für die es demzufolge keine Alternative zur Verwirklichung der Fiskal- und Wirtschaftsunion sowie der politischen Union gibt, da ansonsten der Zusammenbruch droht, und des Kreises der Länder, in erster Linie Großbritannien, die nur bereit sind, gemeinsame Regeln für den Binnenmarkt zu akzeptieren.

Die Regierung der Eurozone, die innere Sicherheit und die Reform der Verträge – dies sind somit drei Aspekte ein und desselben Problems und müssen als solche Teil eines einzigen kohärenten Projekts einer föderalen politischen Union sein.

Die Anerkennung dieses Sachverhalts ist eine erste unverzichtbare und mutige Tat, die die Regierungen, die nationalen und die europäischen Institutionen sowie die politischen Kräfte vollbringen müssen. Nur so kann der Weg dafür geebnet werden, dass aus dieser Anerkennung ein politischer Wille und eine politische Entscheidung erwachsen und die Europäer noch in der laufenden Legislaturperiode den vom Präsidenten der EZB mehrfach eingeforderten institutionellen Sprung schaffen; danach könnte es zu spät sein.

Auf den Erfolg dieses Vorhabens hinzuwirken, ist speziell die Aufgabe all jener, denen das Schicksal ihres eigenes Landes und Europas wirklich am Herzen liegt.

Publius

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