Das Europäische Parlament hat am 22. November mit 291 Ja-Stimmen, 274 Nein-Stimmen und 44 Enthaltungen den von den Mitgliedern der Spinelli-Gruppe Guy Verhofstadt, Sven Simon, Gabriele Bischoff, Daniel Freund und Helmut Scholz erarbeiteten Bericht über Vorschläge zur Änderung der Verträge gebilligt. Damit wurde das Änderungsverfahren gemäß Artikel 48 EUV förmlich eingeleitet. Bereits in den kommenden Tagen wird der Rat dem Europäischen Rat den Antrag auf Änderung der Verträge übermitteln, dem ein Entwurf über detaillierte Abänderungen beigefügt ist.Der Europäische Rat muss folglich mit einfacher Mehrheit (14 von 27 Regierungen) beschließen, ob ein Konvent einberufen wird, mit dem Vertreter der Regierungen, der nationalen Parlamente, der Kommission und des Europäischen Parlaments Verhandlungen über die Reform der Union aufnehmen. Trotz einiger nicht unerheblicher Änderungen des Textes im Zuge der Verabschiedung im Plenum eröffnet die Annahme des Berichts eine große Chance für den Kampf für ein föderales Europa.
Entwurf für eine Reform der Verträge: der vom Parlament angenommene endgültige Text
Ein neues institutionelles Gleichgewicht
Das vom Europäischen Parlament angenommene endgültige Dokument enthält zahlreiche Punkte des ursprünglich im AFCO-Ausschuss erarbeiteten Textes.
Der Entwurf für eine Reform der Verträge sieht in erster Linie die Schaffung eines neuen institutionellen Gleichgewichts durch eine maßgebliche Stärkung des Europäischen Parlaments vor. Dieses erhält in vielen Schlüsselfragen, von der Außenpolitik bis zur Verteidigungspolitik, von der Zusammenarbeit in Strafsachen bis zur Koordinierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten, von der Genehmigung internationaler Verhandlungen bis zur Annahme des mehrjährigen Finanzrahmens die Mitentscheidungsbefugnis. Gleichzeitig ist der Rat (fast) nicht mehr befugt, einstimmige Beschlüsse zu fassen.
In der Regel muss er seine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit (der sogenannten „doppelten Mehrheit“) und nur in einigen Fällen mit einfacher oder verstärkter qualifizierter Mehrheit treffen. Diese Vorschläge zielen eindeutig darauf ab, die Europäische Union einem Zweikammermodell anzunähern, in dem die Vertreter der europäischen Bürgerinnen und Bürger und die Vertreter der Mitgliedstaaten gemeinsam über die Politik der Union entscheiden. Zweitens wird die Reform des Verfahrens zur Wahl der Kommission (künftig: die „Exekutive“) bestätigt, wonach zunächst das Parlament einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten (der Union) vorschlägt und erst danach der Europäische Rat mit einfacher Mehrheit seine Zustimmung erteilt. Damit soll das Spitzenkandidatenverfahren gestärkt und das Einlegen von Vetos im Voraus seitens der Mitgliedstaaten bei der Wahl des künftigen Präsidenten ausgeschlossen werden. Was die designierten Kommissionsmitglieder (künftig: „Minister“) betrifft, so werden sie vom Präsidenten benannt und dann vom Parlament gewählt, ohne dass die nationalen Regierungen vorab beteiligt werden, wie dies derzeit der Fall ist.
Erst dann wird der Europäische Rat die Kommission/die Exekutive als Ganzes mit einfacher Mehrheit ernennen. Mit diesen Änderungen soll die Union stärker an das Modell der parlamentarischen Demokratie angeglichen werden. Dies zeigt sich auch daran, dass die für ein erfolgreiches Misstrauensvotum gegen die Kommission/Exekutive im Parlament derzeit erforderliche Zweidrittelmehrheit auf die absolute Mehrheit gesenkt wird. Dadurch wird die politische Kontrolle des Parlaments über die gesamte Kommission/Exekutive und einzelne Kommissare/Minister gestärkt. Im Gegenzug wird der Präsident der Union (d.h. der Präsident der Kommission/Exekutive) den Europäischen Rat leiten, um hoffentlich eine bessere Synthese der unterschiedlichen nationalen Prioritäten herbeizuführen.
Schließlich wird das Europäische Parlament weiter gestärkt, indem es bislang hauptsächlich von der Kommission ausgeübte Funktionen erhält wie die Gesetzgebungsinitiative und die Aktivierung des Vertragsverletzungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Mitgliedstaaten, die gegen EU-Recht verstoßen.
Ausweitung der Zuständigkeiten
In dem vom Parlament angenommenen Vorschlag wird eine erhebliche Ausweitung der Zuständigkeiten der Europäischen Union gefordert: die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik soll offiziell in den gemeinsamen Zuständigkeitsbereich der EU fallen, ebenso wie Gesundheit, Industrie und Bildung. Zudem soll die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft auf neue Arten von Straftaten von grenzüberschreitender Bedeutung ausgeweitet werden. Bezüglich der Umweltpolitik wird die Rolle der Union bei der Bekämpfung des Klimawandels durch neue spezifische Verweise auf die Ziele der Union in Artikel 3 EUV und die Einführung einer ausschließlichen Zuständigkeit für den Abschluss diesbezüglicher internationaler Abkommen gestärkt.
Wirksamere Kontrolle bei Verstößen gegen die Werte der Union
Das Verfahren bei Verletzungen der Werte der Union gemäß Artikel 7 EUV, bereits (aufgrund der Untätigkeit zahlreicher Regierungen) ohne Erfolg gegen Polen und Ungarn aktiviert, soll grundlegend geändert werden. Vor allem soll für die Aktivierung des Verfahrens eine qualifizierte Mehrheit und nicht mehr Einstimmigkeit erforderlich sein. Zudem wird die Kontrolle nicht mehr politischer, sondern gerichtlicher Natur sein, da der Gerichtshof darüber befindet, ob tatsächlich ein Verstoß gegen die Werte vorliegt. Der Rat kann dann mit qualifizierter Mehrheit Sanktionen verhängen sowie die Zahlung von EU-Mitteln aussetzen.
Annahme der Reform nach dem MehrheitsprinzipEiner der wichtigsten Faktoren für den Erfolg des Projekts ist, dass der Reformvertrag laut Vorschlag des Parlaments nur durch vier Fünftel der Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss, um in Kraft zu treten. Es wird also nachdrücklich gefordert, dass die Überarbeitung der Verträge von der Mehrheit der Mitgliedstaaten angenommen wird, um die „Diktatur“ der Minderheit infolge der Einstimmigkeitsregel zu überwinden, die in der Vergangenheit die Ambitionen der für eine stärkere Integration aufgeschlossenen Länder gelähmt hat. Damit wird zum ersten Mal mit dem „konföderalen“ Rahmen gebrochen, der heute die Europäische Union blockiert. Die Mitgliedstaaten erhalten die Möglichkeit, sich in verschiedenen Integrationsbereichen um einen hoffentlich föderalen Kern in der Mitte neu zu organisieren.
Abschwächung des Vorschlags im Vergleich zum ursprünglichen im AFCO-Ausschuss angenommenen Entwurf
Die Freude über die Aktivierung des Verfahrens zur Änderung der Verträge darf nicht über einige erhebliche Abschwächungen des ursprünglichen Vorschlags im Zuge der Annahme im Plenum hinwegtäuschen. Aufgrund von Vetos und Erpressungen seitens einiger Fraktionen wurde der endgültige, vom Parlament abgeänderte Text einiger zentraler Reformforderungen des ursprünglichen AFCO-Textes beraubt.
Die Streichung der Vertragsänderung, derzufolge die Union Haushaltssouveränität erlangt hätte, ist die gravierendste Abschwächung. In Artikel 311 AEUV über die Änderung des Eigenmittelsystems des EU-Haushalts wird die obligatorische Einstimmigkeit im Rat und die anschließende Genehmigung durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihren jeweiligen Verfahren beibehalten. So wird die Union weder ohne Weiteres neue gemeinsame Schulden aufnehmen noch sich neue stabile Haushaltseinnahmen verschaffen können, da jede Regierung (und jedes nationale Parlament) ein Veto einlegen kann.
Dieser Verzicht ist umso schwerwiegender, da die Entwicklung der fiskalischen Handlungsfähigkeit für die Schaffung föderaler Systeme von systemischer Bedeutung ist. Denn die Befugnis zur Erhebung von Mitteln ermöglicht die eigenständige Finanzierung der Politik eines jedweden Systems. In anderen Worten: Steuerhoheit ist funktional für die Kompetenz-Kompetenz und folglich die Fähigkeit der Union zu selbstbestimmtem Handeln, ohne dabei der Engführung durch die Mitgliedstaaten zu unterliegen.Eine zweite schwerwiegende Abschwächung betrifft die Streichung des Hinweises auf das gesamteuropäische Referendum. Dieses wäre ein wichtiges Instrument gewesen, um den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur die Möglichkeit zu geben, direkt verbindliche Entscheidungen für die Entwicklung der Unionspolitik zu treffen, sondern auch, um eine künftige Reform der Verträge mehrheitlich durch einen Bürgerentscheid auf europäischer Ebene zu legitimieren.
Abschwächung des Vorschlags im Vergleich zum ursprünglichen im AFCO-Ausschuss angenommenen Entwurf
Die Freude über die Aktivierung des Verfahrens zur Änderung der Verträge darf nicht über einige erhebliche Abschwächungen des ursprünglichen Vorschlags im Zuge der Annahme im Plenum hinwegtäuschen. Aufgrund von Vetos und Erpressungen seitens einiger Fraktionen wurde der endgültige, vom Parlament abgeänderte Text einiger zentraler Reformforderungen des ursprünglichen AFCO-Textes beraubt.
Die Streichung der Vertragsänderung, derzufolge die Union Haushaltssouveränität erlangt hätte, ist die gravierendste Abschwächung. In Artikel 311 AEUV über die Änderung des Eigenmittelsystems des EU-Haushalts wird die obligatorische Einstimmigkeit im Rat und die anschließende Genehmigung durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihren jeweiligen Verfahren beibehalten. So wird die Union weder ohne Weiteres neue gemeinsame Schulden aufnehmen noch sich neue stabile Haushaltseinnahmen verschaffen können, da jede Regierung (und jedes nationale Parlament) ein Veto einlegen kann.
Dieser Verzicht ist umso schwerwiegender, da die Entwicklung der fiskalischen Handlungsfähigkeit für die Schaffung föderaler Systeme von systemischer Bedeutung ist. Denn die Befugnis zur Erhebung von Mitteln ermöglicht die eigenständige Finanzierung der Politik eines jedweden Systems. In anderen Worten: Steuerhoheit ist funktional für die Kompetenz-Kompetenz und folglich die Fähigkeit der Union zu selbstbestimmtem Handeln, ohne dabei der Engführung durch die Mitgliedstaaten zu unterliegen.Eine zweite schwerwiegende Abschwächung betrifft die Streichung des Hinweises auf das gesamteuropäische Referendum. Dieses wäre ein wichtiges Instrument gewesen, um den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur die Möglichkeit zu geben, direkt verbindliche Entscheidungen für die Entwicklung der Unionspolitik zu treffen, sondern auch, um eine künftige Reform der Verträge mehrheitlich durch einen Bürgerentscheid auf europäischer Ebene zu legitimieren.
Die Abschwächung des Textes sollte auch nicht als endgültige Niederlage oder als irreparabler Schaden angesehen werden, durch den die Abstimmung des Europäischen Parlaments entwertet wird. Tatsächlich lassen sich aus der am 22. November abgeschlossenen parlamentarischen Arbeit drei Lehren ziehen:
- das Verfahren zur Überarbeitung der Verträge wurde förmlich eingeleitet: Die Staaten werden folglich gezwungen sein, sich zu den Vorschlägen des Parlaments und der Notwendigkeit weiterer europäischer Integration zu äußern;
- das Europäische Parlament hat nachdrücklich bekräftigt, dass eine Reform der Verträge im Hinblick auf Mehrheitsentscheidungen erforderlich ist und somit der derzeitige, auf Einstimmigkeit beruhende Rechtsrahmen überwunden werden muss;
- die vorgeschlagene Vertragsreform geht in Richtung Stärkung der Souveränität Europas in zentralen Fragen; ob die Reform tatsächlich zur Schaffung einer europäischen Föderation führen wird, hängt im Wesentlichen vom Ergebnis der Verhandlungen und vor allem von der Fähigkeit der teilnehmenden Staaten ab, die künftige Union mit eigener Fiskalkapazität auszustatten.
Die reformfreundlichen Kräfte müssen nun Druck auf die Regierungen ausüben, damit diese die Einberufung des Konvents nicht im Keim ersticken. Die Abstimmung im Europäischen Rat über die Einberufung des Konvents ist in der Tat der letzte Schritt, der der konföderalen Logik der bestehenden Verträge unterliegt: Wenn der Konvent erst einmal eröffnet ist, wird es leichter sein, endlich den bestehenden Rechtsrahmen zu überwinden und den ehrgeizigeren Staaten die Möglichkeit zu geben, das Projekt des AFCO-Ausschusses für die Umgestaltung der Union voranzubringen.